3. Februar 2014 Nutzungsanforderungen von anderen Stakeholderanforderungen unterscheiden

Requirements Engineering und Usability Engineering sind Disziplinen, die sich beide um Anforderungen kümmern. Das Usability Engineering fokussiert spezifisch auf die Ermittlung und Umsetzung der Anforderungen an die Nutzung eines Systems.
Viele Nutzungsanforderungen basieren auf impliziten Erfordernissen (implied needs), die zunächst systematisch durch sogenannte Nutzungskontextanalysen erfasst und dokumentiert werden müssen.

Interaktive Systeme, also Software- und Hardwareprodukte, die eine Benutzungsschnittstelle haben, bergen immer das Risiko, dass Nutzer diese nur aufwändig (oder gar nicht) benutzen können. Gerade bei den Nutzern ist die umfassende Identifikation und Dokumentation aufgabenbezogener Anforderungen jedoch besonders wichtig, sind es doch die Nutzer, bei denen sich der Nutzen des implementierten Systems entfaltet.
Nutzer sind wertvolle (und teure) Ressourcen, die sich ihrer Arbeit widmen wollen und nicht ihre Zeit mit Fragen wie „wo geht das nochmal mit dem System?“ oder „wie komme ich jetzt aus dieser Fehlersituation wieder heraus?“ verbringen sollen.

Die Usability (Gebrauchstauglichkeit) ergibt sich einerseits aus der Umsetzung von Nutzungsanforderungen und andererseits aus der Anwendung von Gestaltungsprinzipien.

Aber was genau unterscheidet Nutzungsanforderungen von anderen Stakeholderanforderungen? Das Anforderungsmodell in folgender Abbildung erläutert die Unterschiede.

Abbildung: Arten von Anforderungen – ein Modell für die Praxis, Copyright ProContext Consulting GmbH Abbildung: Arten von Anforderungen – ein Modell für die Praxis, Copyright ProContext Consulting GmbH

Aus der Projektpraxis der ProContext Consulting GmbH bei der Entwicklung interaktiver Systeme lassen sich fünf Arten von Stakeholderanforderungen unterscheiden, die allesamt zu Systemanforderungen (oder „technischen Anforderungen“) führen können:

  • Gesetzliche Anforderungen („regulatorische Anforderungen“)

    Gesetzliche Anforderungen bilden den äußeren Rahmen für die Systementwicklung. Sie richten sich typisch an die Hersteller (oder auch Betreiber) von interaktiven Systemen.

    Beispiele für gesetzliche Anforderungen sind:

    • „Der Name oder die Firma und die Anschrift des Verantwortlichen müssen in der Kennzeichnung oder Gebrauchsanweisung des Medizinproduktes enthalten sein.“ (Medizinproduktegesetz)
    • „Der Hersteller muss einen gebrauchstauglichkeitsorientierten Entwicklungsprozess einrichten, dokumentieren und einhalten, um die Sicherheit für Patient, Benutzer und andere Personen im Hinblick auf die Gebrauchstauglichkeit sicherzustellen.“ (DIN EN 62366)
    • „Die Grundsätze der Ergonomie sind insbesondere auf die Verarbeitung von Informationen durch den Menschen anzuwenden.“ (Bildschirmarbeitsverordnung)
  • Marktanforderungen

    Marktanforderungen sind all die Anforderungen, die am Produkt umgesetzt werden müssen, damit es von möglichst vielen Käufern in Betracht gezogen und gekauft wird.

    Beispiele für Marktanforderungen sind:

    • Das Produkt muss mindestens so viele Funktionen haben, wie das des aktuellen Marktführers.
    • Das Smartphone muss auf den ersten Blick wirken wie ein iPhone.
    • Das Produkt darf maximal 100 EUR kosten.
  • Organisatorische Anforderungen

    Organisatorische Anforderungen beschreiben, wie sich Mitarbeiter in der Organisation, die das interaktive System einsetzt, bei ihrer Tätigkeit verhalten müssen bzw. welche organisatorischen Festlegungen im Rahmen des Nutzungskontextes getroffen sein müssen, damit das interaktive System effizient genutzt werden kann.

    Beispiele für organisatorische Anforderungen sind:

    • Der Pförtner muss bei jedem ankommenden Fahrzeug feststellen, ob die Lieferung angemeldet ist und um welche Lieferung es sich handelt.
    • Der Arzt muss bei jedem Patienten die Einverständniserklärung für die Durchführung einer Operation einholen.
    • Es muss festgelegt sein, zu welcher Zeit, in welchen Abständen und von welchen Personen die Wartungsarbeiten durchgeführt werden.
  • Fachliche Anforderungen

    Fachliche Anforderungen beschreiben, welche Merkmale ein vollständiges und richtiges Arbeitsergebnis bzw. Information-Item aufweisen muss, das mit dem interaktiven System erzeugt bzw. vom interaktiven System eingelesen / ausgewertet wird.

    Beispiele für fachliche Anforderungen sind:

    • Auf der Rechnung muss die Auftragsnummer des Kunden enthalten sein (System zur Rechnungslegung).
    • Errechnete Geldbeträge müssen auf zwei Nachkommastellen gerundet sein (Währungsumrechner).
    • Die Bestellung muss eine vollständige Lieferadresse enthalten.
  • Nutzungsanforderungen

    Nutzungsanforderungen beschreiben, was ein Nutzer bei der Erledigung am System erkennen, auswählen oder eingeben können muss, um effizient zum gewünschten Arbeitsergebnis zu kommen.

    Beispiele für Nutzungsanforderungen sind:

Nutzungsanforderungen beschreiben also, was der Nutzer am System genau tun können muss, um effizient zum Arbeitsergebnis zu kommen. Das unterscheidet sie insbesondere von Marktanforderungen und fachlichen Anforderungen. Die Effektivität und Effizienz der Aufgabenerledigung steht bei den Nutzungsanforderungen im Vordergrund.

Stakeholderanforderungen werden insgesamt erhoben, um die Systemanforderungen, also den „Beitrag des Systems zur Umsetzung von Stakeholderanforderungen“ systematisch herzuleiten. Stakeholderanforderungen sind der Gegenstand des „Lastenhefts“ und Systemanforderungen sind der Gegenstand des „Pflichtenhefts, das Pflichtenheft muss immer im Zusammenhang mit dem Lastenheft betrachtet werden.

Ein Beispiel für eine Systemanforderung ist: „Das System muss die durchschnittliche Dauer zwischen zwei Aufträgen für jeden Kunden berechnen“. Dies ist systemseitig erforderlich, um die obengenannte Nutzungsanforderung des Vertriebsmitarbeiters umzusetzen.

Systemanforderungen, bei denen nicht klar ist, auf welchen Stakeholderanforderungen diese basieren, bedeuten Entwicklungsaufwand mit fragwürdigem Ergebnis – häufig Funktionalität, die kein Mensch benötigt.

Fazit: Bei der Herleitung von Stakeholderanforderungen müssen die Nutzungsanforderungen in den Vordergrund gestellt werden. Klare Nutzungsanforderungen führen zu einem klaren System, dessen Nutzer effizient und zufriedenstellend arbeiten können.
Usability Engineering ist die Disziplin, die hierzu die entsprechenden Methoden und Prozesse bereitstellt. Wer hierüber mehr erfahren möchte, sollte an einem Training zum Certified Professional for Usability and User Experience teilnehmen.