28. Juni 2012 Nutzungskontext, Erfordernisse, Anforderungen und Lösung - das Arbeitsmodell des Usability-Engineering

Beim Usability Engineering im Rahmen der Produktentwicklung spielt die Identifikation von Erfordernissen (englisch „needs“) seitens der Benutzer eine tragende Rolle. Denn aus diesen Erfordernissen lassen sich die sogenannten „Nutzungsanforderungen“ (englisch „requirements for use“ oder „user requirements“) herleiten. Diese erlauben dann in Verbindung mit erprobten ergonomischen Gestaltungsregeln eine gebrauchstaugliche Produktkonzeption.

Was einfach klingt, ist methodisch anspruchsvoll. Die Tatsache, dass die meisten interaktiven Produkte (mitunter schwerwiegende) Nutzungsmängel aufweisen, hängt mit Schwachstellen beim methodischen Vorgehen zusammen, wenn Usability Engineering nicht integraler Bestandteil der Produktentwicklung ist. Um bei Produktkonzeption geeignet methodisch vorgehen zu können, benötigen Projektbeteiligte ein umfassendes Verständnis des zugrundeliegenden Modells.
Die folgende Abbildung zeigt das Arbeitsmodell des Usability Engineering und verdeutlicht, wie beim Usability Engineering mit Methode gebrauchstaugliche Produkte konzipiert werden: Diagramm: Das Arbeitsmodell des Usability Engineering

Fallbeispiel: Elektrischer Eierkocher

Der klassische elektrische Eierkocher, bei dem der Nutzer eine bestimmte Menge Wasser abmisst und in das Gerät gießt, ist ein gescheitertes Produkt. Bekommt man ihn zu Weihnachten geschenkt, steht er zunächst auf der Arbeitsplatte in der Küche und verschwindet dann langsam weiter unten im Schrank bei den Küchenmaschinen. Hier rutscht er immer weiter nach hinten, bis seine Gegenwart vergessen wird und beim Eierkochen der gewohnte Griff zum Kochtopf erfolgt. Aber werden elektrische Eierkocher wirklich nicht gebraucht? Bei genauem Hinsehen ergeben sich zukunftsweisende Erkenntnisse für Haushaltsgerätehersteller…

Nutzungskontext beim Eierkochen

Der Nutzungskontext ist in ISO 9241-11 definiert als „Die Benutzer, Arbeitsaufgaben, Ausrüstung (Hardware, Software und Materialien) sowie physische und soziale Umgebung, in der das Produkt genutzt wird.“

Der Nutzungskontext beim Eierkochen setzt sich zusammen aus:

  1. Benutzer von Eierkochern:

    Naja, zunächst sind dies alle Menschen, die gekochte Eier essen, z.B. beim Frühstück. Bei genauerem Hinsehen entdeckt man im Kontext „Frühstücken“ das folgende „Rollenmodell“:

    • Frühstückszubereitender (z.B. Familienvater, der früh aufsteht)
    • Frühstücksteilnehmer (z.B. die Lebenspartnerin und das gemeinsame Kleinkind)
  2. Arbeitsaufgabe, die der Eierkocher unterstützen soll:

    Frühstückseier zubereiten

  3. Ausrüstung beim Eierkochen:

    Eier, Kochtopf, Wasser, „Hitze“, Uhr. Wichtig ist, dass das zu entwickelnde Produkt bei der Analyse und Definition des Nutzungskontexts zunächst einmal nicht Bestandteil des Nutzungskontexts ist. Es geht vielmehr darum, welche Ausrüstung rund um das Produkt typisch vorhanden ist, da diese Ausrüstung die Produktgestaltung mit beeinflusst.

  4. Soziale Umgebung beim Eierkochen:

    Im Kontext der (beispielhaften) Kleinfamilie sind dies der frühaufstehende Vater, der das Frühstück zubereitet, das Kleinkind, das noch schläft, bis der Frühstückstisch gedeckt ist und die Mutter, die wie der Vater berufstätig ist.

  5. Physische Umgebung beim Eierkochen:

    Dies ist der Ort, an dem die Eier zubereitet werden, sprich die Küche, die in einer Etagenwohnung eher klein ist, sodass viele Dinge hin- und hergeräumt werden müssen.

Erfordernisse beim Eierkochen

Erfordernisse sind im „Leitfaden Usability“ der Deutschen Akkreditierungsstelle (kurz DAkkS) definiert als „eine notwendige Voraussetzung, die es ermöglicht, den in einem Sachverhalt des Nutzungskontexts enthaltenen Zweck effizient zu erfüllen.“

Im Kontext Eierkochen muss so z.B. der Frühstückszubereitende „wissen, welche Konsistenz (weich, mittel, hart) jeder Frühstücksteilnehmer erwartet (Voraussetzung), um jedem Frühstücksteilnehmer ein erwartungskonformes Ei bereitstellen zu können (Zweck)“. Dies ist ein Beispiel für ein valides Erfordernis; es ist unstrittig und für alle Benutzer (in einem „kollaborativen“ Frühstückskontext) zutreffend. Was an dieser Stelle trivial klingt, hat im nächsten Schritt große Bedeutung für die Herleitung der Nutzungsanforderungen.

Nutzungsanforderungen

Nutzungsanforderungen sind ebenfalls im Leitfaden Usability definiert als eine erforderliche Benutzeraktion an einem interaktiven System, in einer die Tätigkeit beschreibenden Weise – nicht in technisch realisierter Weise.

Nutzungsanforderungen sind eine spezifische Art der sogenannten Stakeholderanforderungen. Sie beschreiben, was ein Nutzer an einem interaktiven System konkret an Handlungen ausführen können muss.

Nutzer können nur drei Arten von „Aktionen“ an einem interaktiven System ausführen:

  • etwas eingeben
  • etwas auswählen
  • etwas erkennen

Diese Erkenntnis stammt von Wolfgang Dzida (2007), dem Begründer der Grundsätze der Dialoggestaltung.

Will man also die Nutzungsanforderungen an einen Eierkocher herleiten, so ist bei jedem Erfordernis im Nutzungskontext zu überprüfen, was denn der Nutzer an einer „gedachten“ Lösung für das Eierkochen ausführen können muss.

Im Lichte des oben genannten Erfordernisses ergeben sich beispielsweise folgende Nutzungsanforderungen:

  • Der Nutzer muss am System __auswählen__ können, wie viele Eier weich, wie viele mittel und wie viele hart gekocht werden sollen.
  • Der Nutzer muss am System __erkennen__ können, welches Ei welche Konsistenz hat.

Systemanforderungen

Systemanforderungen beschreiben, was aus Sicht eines Systems zu leisten ist, um eine oder mehrere Stakeholderanforderungen zu befriedigen (ISO/IEC 15288). So ist z.B. eine Systemanforderung „der Eierkocher muss die Temperatur im Mittelpunkt jedes Eis bestimmen können“ bzw. „der Eierkocher muss den Temperaturverlauf über der Zeit ermitteln“, da diese Temperatur über der Zeit fachlich ein Maß für die erreichte Konsistenz des Eis ist. Nur mittels dieser Systemanforderungen lässt sich die Nutzungsanforderung an das „Erkennen der fertigen Eier unterschiedlicher Konsistenz“ im Produkt realisieren. Solche Systemanforderungen lassen sich am einfachsten spezifizieren, wenn die Nutzungsanforderungen vorher spezifiziert wurden.

User Interface („über der Haube“)

Nach Jef Raskin, dem Erfinder des Apple Macintosh gilt: from the customer’s perspective, the user interface is the system.

Nach ISO 9241-110 ist das User Interface definiert als alle Bestandteile eines interaktiven Systems (Software oder Hardware), die Informationen und Steuerelemente zur Verfügung stellen, die für den Benutzer notwendig sind, um eine bestimmte Arbeitsaufgabe mit dem interaktiven System zu erledigen.

Ein User Interface ist also nichts weiter als Steuerelemente und handlungsleitende Informationen. Aber nur wenn alle aus Nutzersicht notwendigen Aktionen (sprich Nutzungsanforderungen) bekannt sind, sind auch die RICHTIGEN Steuerelemente und die RICHTIGEN Informationen gestaltbar. In Konsequenz haben alle Steuerelemente und Informationen, die aus Sicht des Nutzers nicht zur Erledigung der Aufgabe benötigt werden, am User Interface nichts zu suchen.

Nutzungsanforderungen setzen der Kreativität von Produktdesignern einerseits Grenzen (die aus Nutzersicht ohnehin nicht überschritten werden dürfen), sie stimulieren andererseits die Kreativität, wenn sie wirklich lösungsneutral formuliert sind. Bei Eierkochern denkt man meistens an klassische Geräte, die lautstark brummen, wenn die Eier fertig sind und dem Benutzer ein Gespür für genau abgemessene Wassermengen abverlangen. Bei einem Produkt wie z.B. PiepEi Gold ist dagegen eine Innovation umgesetzt, die einerseits gleichzeitiges Kochen von Eiern unterschiedlicher Konsistenz ermöglicht und andererseits die bereits vorhandene Ausrüstung im Kontext von „Eierkochenden“ sinnvoll weiterverwenden lässt. Der Eierkochende kann den gewohnten Griff zum Kochtopf beibehalten und hat ein „Plug-in“ für selbigen verfügbar, das (unabhängig von der zu Begin des Eierkochens vorhandenen Wassertemperatur) treffsicher weiche, mittlere und harte Eier in einem Kochgang ermöglicht.

Technisches System („unter der Haube“)

Das technische System muss sich immer dem User Interface unterordnen. Nur so wird sichergestellt, dass das Produkt sich so verhält, wie die zu erledigende Aufgabe es erfordert.

Wird erst das technische System konzipiert und anschliessend das User Interface „darüber gegossen“, sind Steuerelemente und Informationen i.d.R. nicht aufgabenangemessen und aus Nutzersicht oftmals komplett unverständlich: Ein solches System zwingt dem Nutzer ein Nutzungskonzept auf, das der Nutzer im schlimmsten Fall nicht im Ansatz versteht oder täglich in dieselben Fallen rennen lässt.

Die Inhalte dieses Beitrags werden seit 2008 von Thomas Geis mit großem Erfolg als Inhouse-Vortrag angeboten. Bei Interesse senden wir Ihnen gerne ein Angebot.

Die ProContext Consulting GmbH führt für zahlreiche Hersteller von interaktiven Systemen in unterschiedlichsten Branchen in großem Umfang Nutzungskontextanalysen durch und erarbeitet Anforderungs- und Interaktionsspezifikationen sowie User Interface Konzepte, die systematisch zu hoher Nutzungsqualität führen und eine gute User Experience („Benutzererlebnis“) bieten.