20. Dezember 2019 Die neue ISO 9241-11 (2018) „Usability: Definitions and concepts”
Ein Beitrag von Guido Tesch, Senior Consultant Human-Centered Design
Wir beginnen hier eine Serie von Blog-Beiträgen, in der spannende Neuerungen der letzten zwei Jahre in den Normdokumenten im Fachgebiet Usability / User Experience im Detail vorgestellt werden.
Diese Serie ist interessant für Jeden, der sich in einem menschzentrierten Gestaltungsprozess (englisch „Human-Centered Design“ oder kurz „HCD“) bewegt und UX-Arbeitsergebnisse erarbeitet oder bearbeitet, egal ob Einsteiger, Fortgeschrittener oder Experte.
Teil 11 der Reihe ISO 9241 präsentiert die wichtigsten Grundlagen für die Usability-Arbeit, nämlich die Definition des Konzepts „Gebrauchstauglichkeit“ (Usability) mit seinen Aspekten „Effektivität“, „Effizienz“ und „Zufriedenstellung“ sowie des Konzepts „Nutzungskontext“ mit seinen Aspekten „Benutzer“, „Ziele“, „Aufgaben“, „Umgebungen“ und „Ressourcen“. Diese Begrifflichkeiten werden in ISO 9241-11 in Beziehung gesetzt zu verwandten Konzepten wie „Menschzentrierte Qualität“ (Englisch „Human-Centered Quality“) und „Benutzererlebnis“ (Englisch „User Experience“).
Neuerungen der ISO 9241-11 im Überblick:
- Nicht mehr nur „Produkte“, sondern „Produkte, Systeme und Dienstleistungen“
- Nicht mehr „Ziele des Benutzers“, sondern „Ziele von Stakeholdern“
- „Zufriedenstellung“ neu definiert
- Ausweitung des Aspekts „Umgebung“ im Nutzungskontext
- Verankerung von Usability im Qualitätsmodell als eine Dimension von „Menschzentrierte Qualität“
1. Nicht mehr nur „Produkte“, sondern „Produkte, Systeme und Dienstleistungen“ (Interaktive Systeme)
Usability war bisher ein Qualitätsmerkmal von Produkten. Es ist mit der Zeit deutlich geworden, dass nicht nur Produkte eine Usability haben können, sondern auch Dienstleistungen (egal ob durch Personen oder technische Systeme erbracht) und Systeme (Kombinationen von Produkten, Dienstleistungen, Material, Software-Programmen, Dokumentation, etc.). In der Praxis ist „interaktives System“ ein sinnvoller Sammelbegriff für diese Entitäten, definiert als „Eine Kombination aus Hardware und/oder Software und/oder Dienstleistungen und/oder Menschen, mit denen Benutzer zur Erreichung bestimmter Ziele interagieren“.
2. Nicht mehr „Ziele des Benutzers“, sondern „Ziele von Stakeholdern“
Ein Kernelement der Definition von Usability sind die mittels der Benutzung des interaktiven Systems zu erreichenden Ziele. Bisher wurden hier ausschließlich die Ziele der Benutzer betrachtet. Es hat sich gezeigt, dass es hilfreich ist, auch Ziele anderer Stakeholder zu betrachten für die Usability eines interaktiven Systems.
Beispiele:
- Ein Geschäftsreisender verwendet eine Buchungs-App eines Reisedienstleisters, mit dem sein Arbeitgeber einen Rahmenvertrag abgeschlossen hat, um während der Durchführung von Dienstreisen spontan zusätzliche Reiseleistungen zu buchen, zum Beispiel einen neuen Flug, weil der geplante Flug verpasst wurde. Der Arbeitgeber hat das Ziel, sämtliche Buchungen von Reiseleistungen mit möglichst geringem Aufwand abrechnen zu können und legt deshalb die organisatorische Anforderung fest, dass immer die App des Reisedienstleister zu verwenden ist. Damit werden die Ziele, die der Benutzer bei der Benutzung des interaktiven Systems „Buchungs-App“ erreichen will, um das Ziel seines Arbeitgebers ergänzt.
- Der Empfänger einer Rechnung, die mithilfe einer Abrechnungssoftware (interaktives System) erzeugt wird, hat das Ziel, seine Steuerrückerstattung zu maximieren. Dazu hat er Anforderungen an die Gestaltung der Rechnung, zum Beispiel welche Informationen auf der Rechnung angegeben sein müssen, damit er die Ausgabe steuerlich geltend machen kann. Der Empfänger der Rechnung ist kein direkter Benutzer des interaktiven Systems „Abrechnungssoftware“, aber auch sein Ziel gilt es durch die Benutzung des interaktiven Systems zu erreichen. Dementsprechend muss die Usability sowohl aus der Perspektive der Ziele des direkten Benutzers als auch des indirekten Benutzers betrachtet werden.
- Ein Fußgänger hat das Ziel, beim Benutzen eines Gehweges, auf dem auch Fahrräder zugelassen sind, sicher an sein Ziel zu kommen. Dafür muss das interaktive System „Alarmsignalgeber“ (z.B. eine Fahrradklingel oder eine Hupe, die an den vorbeifahrenden Fahrrädern befestigt ist) bestimmte Anforderungen aus Sicht der Fußgänger erfüllen. Die Usability des interaktiven Systems wird also auch hier aus der Perspektive zweier Stakeholdergruppen betrachtet, der Fahrradfahrer (direkte Benutzer) und der Fußgänger (indirekte Benutzer).
3. „Zufriedenstellung“ neu definiert
Zufriedenstellung war bisher definiert als „Freiheit von Beeinträchtigungen und positive Einstellungen gegenüber der Nutzung des Produkts“. Damit war Zufriedenstellung relativ eng gefasst und die Größen, von denen Zufriedenstellung abhängt, nur vage benannt. So war es insbesondere schwierig, die Zufriedenstellung zu messen. Auch wurden nur Produkte betrachtet und nicht allgemein „interaktive Systeme“.
2010 wurde der Begriff „User Experience“ in ISO 9241-210 definiert und auch das Verhältnis von Usability zu User Experience geklärt. In diesem Zuge hat man bei der Neuausgabe des Teils 11 die Definition von Zufriedenstellung geschärft und besser überprüfbar gemacht: Zufriedenstellung ist „das Ausmaß der Übereinstimmung der physischen, kognitiven und emotionalen Reaktionen des Benutzers, die aus der Benutzung Systems, Produkts oder einer Dienstleistung resultieren, mit den Benutzererfordernissen und Benutzererwartungen.“
Beispiel:
Das interaktive System ist eine Fahrradklingel. Verschiedene Klänge der Klingel können von der Effektivität als auch von der Effizienz her angemessen gestaltet sein, von der Zufriedenstellung her aber durch Benutzer sehr unterschiedlich bewertet werden. Grundsätzlich wird Zufriedenstellung oft mit Hilfe einer Benutzerbefragung ermittelt.
Nach alter Definition ist es akzeptabel, wenn man die Zufriedenstellung von Benutzern mit einer Klingel ermittelt durch die Frage „Wie ist Ihre Einstellung gegenüber der Benutzung dieser Klingel? (sehr positiv, positiv, neutral, negativ, eher negativ)“.
Nach neuer Definition ist dies nicht hinreichend, da die Frage nach der Einstellung gegenüber der Fahrradklingel unspezifisch ist. Stattdessen sollten zunächst die Erfordernisse und Erwartungen der Benutzer ermittelt werden und dann die Übereinstimmung der Reaktionen des Benutzers mit diesen Erfordernissen und Erwartungen geprüft werden.
Zum Beispiel kann man vor der Benutzung relevante Aspekte des Nutzungskontexts ermitteln:
- „Welche Erlebnisse hatten Sie bisher mit der Benutzung von Fahrradklingeln? Was ist Ihnen besonders positiv aufgefallen? Was ist Ihnen besonders negativ aufgefallen?“
- „In welchen Situationen verwenden Sie konkret die Fahrradklingel? In welchen Situationen nutzen Sie die Fahrradklingel nicht, obwohl es andere Fahrradfahrer vielleicht tun würden?“
Mit den Beschreibungen der Benutzer kann man dann Erfordernisse der Benutzer bzgl. des Klangs der Fahrradklingel identifizieren. Während der Benutzung kann man die Reaktionen des Benutzers beobachten und daraus schließen, ob die Erfordernisse und Erwartungen erfüllt wurden.
Nach der Benutzung der Fahrradklingel kann man fragen / ermitteln:
- „Wie war Ihr Eindruck vom Klang der Fahrradklingel?“
- „Inwieweit entsprach der Klang der Fahrradklingel Ihren Erwartungen? inwieweit nicht?“
Hieraus lässt sich dann gezielt erkennen, ob Benutzer im Sinne der neuen Definition bei der Benutzung der Fahrradklingel zufriedengestellt werden oder nicht.
4. Ausweitung des Aspekts „Umgebung“ im Nutzungskontext
In der Definition des Begriffs „Nutzungskontext“ wurden als Bestandteil bisher nur die physische Umgebung und die soziale Umgebung benannt. Dieser Ansatz hat sich als zu eng erwiesen. Es gibt Anforderungen, die sich unmittelbar aus Aspekten der Umgebung ergeben (d.h. nicht aus der Betrachtung der anderen Komponenten des Nutzungskontextes wie Benutzer, Ziele, Aufgaben oder Ressourcen), die jedoch nichts mit physischer oder sozialer Umgebung zu tun haben.
In der neuen ISO 9241-11 sind zusätzlich folgende Aspekte der Umgebung benannt:
- Technische Umgebung: Komponenten der Umgebung, die den Zugang zu Ressourcen wie Energie (z.B. Strom, Wärme) und Konnektivität (z.B. Internet-Zugang) ermöglichen
- Kulturelle Umgebung: z.B. die Sprache, die Rechtslage oder die Wertvorstellungen, unter denen ein interaktives System verwendet wird
- Organisationsbezogene Umgebung: z.B. die Organisationsstrukturen, Arbeitspraktiken, Prozesse, Verhaltensvorschriften
In den Erläuterungen der alten ISO 9241-11 wurde auch früher schon angedeutet, dass diese Umgebungsaspekte relevant sein können, die Definition von „Nutzungskontext“ stand dem aber entgegen. Das ist jetzt korrigiert worden.
5. Verankerung von Usability im Qualitätsmodell als eine Dimension von „Menschzentrierte Qualität“
Ein zentraler Aspekt bei der Entwicklung von interaktiven Systemen ist deren Qualität, definiert in DIN EN ISO 9000 als „Grad, in dem ein Satz inhärenter Merkmale eines Objekts Anforderungen erfüllt“. Im magischen Dreieck der Projektsteuerung stellt es neben „Zeit“ und „Kosten“ einen wichtigen Grundpfeiler dar.
In einem Qualitätsmodell werden Qualitätsdimensionen definiert, die für die Entwicklung eines interaktiven Systems als relevant erachtet werden. Es war lange Zeit eine offene Frage, wie sich das Konzept von Usability oder User Experience in ein Qualitätsmodell eingliedern lässt. Hierzu gibt es nun eine Antwort aus Sicht des Normenwerks. Danach ist Usability eine Dimension der „Menschzentrierten Qualität“ (englisch „Human-Centered Quality“), neben Benutzererlebnis (User Experience), Barrierefreiheit (Accessibility) und der Vermeidung nutzungsbedingter Schäden (Freedom of harm from use). Somit lässt sich nun Usability und User Experience im Qualitätsmodell für ein Entwicklungsprojekt sauber verankern und mit entsprechenden „menschzentrierten Qualitätszielen“ ausstatten.
Weiterführende Informationen zur DIN EN ISO 9241-11 „Ergonomie der Mensch-System-Interaktion - Teil 11: Gebrauchstauglichkeit: Begriffe und Konzepte“ (2018)
Englischer Titel: „Ergonomics of human-system interaction - Part 11: Usability: Definitions and concepts“
Ausgabedatum: November 2018 (löst die Version von 1998 ab)
Editoren der neuen Version:
- Dr. Nigel Bevan, Professional UX Services, London, UK
- Prof. Dr. Susan Harker, Loughborough Design School, Loughborough U, UK
- Prof. Dr. James Carter, Computer Science Dept., University of Saskatchewan, Canada
(Normdokumente werden in Zusammenarbeit vieler Fachexperten aus vielen Ländern erstellt und gepflegt, diese oben genannten Personen haben sich als Editoren besonders für die Aktualisierung des Normdokuments engagiert.)
Übersicht der wichtigsten Normen im Fachgebiet Usability / UX-
Vorheriger Artikel (29.11.2019)
Handout zum Webinar ‚Neues aus der Normung’ vom 28.11.2019
-
Nächster Artikel (5.02.2020)
Nutzungskontextanalyse von ProContext führt zum erfolgreichen Launch einer interaktiven Schlaganfallbegleitung